Disney+: „Soul“ überschreitet eine Grenze, die Pixar bisher respektiert hat - WELT (2024)

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Merkwürdig. Eigentlich hatten wir geglaubt, die Debatte um die Prägung eines Menschen bewege sich zwischen drei Polen: dem göttlichen Funken, den genetischen Anlagen und der Beeinflussung durch die gesellschaftliche Umgebung. Nun kommt plötzlich eine vierte Determinante dazu: eine Lehrzeit im „Großen Vorher“.

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Der Reihe nach. Joe Gardner, Hauptfigur des neuesten Pixar-Films „Soul“, ist Musiklehrer in einer New Yorker Schule. Seine Mutter hofft, dass er endlich fest angestellt wird, er hofft auf eine Karriere als freier Jazzpianist. Eines Tages scheint sich beides gleichzeitig zu erfüllen. Die Schule bietet ihm einen Vertrag an, und in einem Club soll er als Ersatz an der Seite einer Jazzdiva auftreten. Joe schwebt im siebten Himmel, tanzt durch Brooklyn – und fällt in einen Schacht, den Straßenarbeiter offen stehen ließen. Wir erleben den Exitus der Hauptfigur, bevor überhaupt der Titel des Films erschienen ist. Nicht einmal Bambis Mutter wurde so früh ins Jenseits befördert.

Apropos Jenseits: Als Joe nach seinem Ableben wieder erwacht, steht er auf einer Art Förderband im Weltenraum. Es ist dies in einem ansonsten vor ureigenen Ideen nur so sprühenden Film die einzige Referenz an die Filmgeschichte, an die Treppe, die in „Irrtum im Jenseits“ (1946) in den Himmel führt, in einem der kühnsten Filme, die jemals entstanden sind. Das Fließband in „Soul“ transportiert Verstorbene zu ihrer Bestimmung, in ein weißes Gleißen, das mitten im Sternenhimmel erstrahlt. Das ist das „Große Nachher“, aber Joe fühlt sich noch nicht bereit und rennt davon fort, gegen den Strom, drängelt, strauchelt – und fällt erneut, durch alle Dimensionen menschlichen Lebens.

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Diesmal erwacht er im „Großen Vorher“. Man muss sich das wie die Elysischen Felder vorstellen, mit immergrünem Gras und lila Himmel und ständig kichernden Bewohnern: amorphe Farbkleckse mit Glupschaugen, die unbeschwert durch die Gegend flitzen, in etwa wie Vorschulkinder, als sie noch nicht Englisch lernen mussten. Man könnte das „Große Vorher“ auch einen Vor-Geburts-Kindergarten nennen, denn dort tollen die unschuldigen Seelen umher und werden von Mentoren (die ihr Leben schon hinter sich haben und wie Figuren des späten Picasso aussehen) auf die Erde vorbereitet. Sobald sie den „Funken“ entdeckt haben, der sie als Motivation durchs Leben tragen soll, erhalten sie einen Erdpass und schlüpfen dort in frisch geborene Babys. So viel zur Theorie der frühkindlichen Prägung.

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Die Pixar-Filme der letzten Jahre haben einen unoptimistischen Unterton

Es ist eine Schöpfungsgeschichte à la Pixar. Wenn ein Filmstudio sich anmaßen darf, eine eigene Schöpfungsgeschichte zu erzählen, dann die Künstler in der Disney-Dependance, die sich auch 15 Jahre nach der Übernahme durch den Konzern ihre Kreativität bewahrt haben, ihren Ehrgeiz, sich dorthin zu wagen, wo kein Mensch sich zuvor hinwagte. In „Wall-E“ haben sie von der Zerstörung irdischen Lebens und dessen Neubeginn erzählt, in „Oben“ von Altern, Trauer und Verlust, in „Coco“ von den Verstorbenen, die mit uns weiterleben, und in „Onward“ von einer technisierten Welt, in der die Magie verloren geht.

Es existiert also zivilisationsanalytische Kompetenz im kalifornischen Emeryville, die sich sogar den Gag erlaubt, C. G. Jung mit dem Satz „Hör auf zu plappern – mein Unbewusstes hasst dich“ als Mentor auftreten zu lassen. Die Pixar-Filme der letzten Jahre haben einen unoptimistischen Unterton. Da bricht eine der größten Freundschaften der Filmgeschichte entzwei („Toy Story 4“), erwecken zwei Söhne ihren toten Vater für einen Tag zum Leben („Onward“), und nun dieser unerfüllte Künstler, der in der Seelenschmiede gefangen sitzt, statt auf der Erde seiner Leidenschaft zu frönen.

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Man könnte den Pixaristen eine existenzielle Krise unterstellen, was durchaus positiv gemeint wäre; eine solche Krise wäre vollkommen verständlich angesichts des Zustands der Welt und des Kurses ihres Disney-Mutterkonzerns, der nur noch Fortsetzungen und Remakes seiner eigenen Klassiker auszustoßen scheint.

Man könnte sogar – in leichter Überinterpretation – einen Zusammenhang zwischen dem Inhalt des Films und dessen Schicksal herstellen: Joe ergreift die Chance, deren Fenster sich einen kurzen Moment auftut, statt sein Leben weiter zu verträumen. Auch Disney hat einige Monate darauf gewartet, den Film in die Kinos bringen zu können, und ihn, als dieses Fenster geschlossen blieb, in seinen Streamingdienst geworfen. Natürlich hinkt der Vergleich, denn all die Künstler in Emeryville, die in jeden Strich unendliche Mühe gelegt haben, vergießen jetzt Tränen, weil ihre Mühe in dem kleinen Format großteils unbemerkt bleibt.

Ein Vierteljahrhundert lang war Pixar ein Weiße-Jungs-Klub: weiße Charaktere, weiße Spielzeuge, weiße Denkweise. Auch hier führt ein Klubmitglied Regie, der geniale Pete Docter, der aus dem Schatten seines Vorgängers John Lasseter herausgetreten ist und nun als Pixar-Chef installiert wurde. Aber Docter hat einen Co-Regisseur, den schwarzen Dramatiker Kemp Powers, dessen Selbstermächtigungsstück „One Night in Miami“ wir nächstes Jahr als brillanten Film zu sehen bekommen werden.

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Der Abspann von „Soul“ wimmelt nur so von „kulturellen Beratern“, die sicherstellen sollen, dass die afroamerikanische Lebenswelt korrekt dargestellt wird, und der wichtigste Berater ist der Kameramann Bradford Young, einer der Pioniere der Ausleuchtung dunkler Haut auf der Leinwand.

Nun ist „Soul“ kein Film über die schwarze Lebenswelt, sondern über die Beseelung des Menschen, allerdings anhand der schwarzen Seelenmusik, des Jazz. Das ist in dem identitätsbesessenen Amerika ein vermintes Gelände, und die Forderung, nur Menschen von Farbe hätten das Recht, einen solchen Film zu drehen, liegt dieser Denke nicht fern. Desto mehr, als „Soul“ nach Joes Rückkehr auf die Erde ausschließlich in seiner schwarzen Familie, deren Nachbarschaft, einem Barbershop und dem Jazzclub spielt. Es ist eine radikal andere zweite Hälfte, in warmen Farben und mit größter Aufmerksamkeit für Details wie der Fettschicht auf einer Pizza. Docters ganzer Film ist – nicht in der Ausführung, aber in seinem Gedankengang – eine freie Improvisation und nähert sich so der Essenz des Jazz.

Er packt eigentlich unverträgliche Genres in 100 Minuten: ein Grübeln über Liebe, Leidenschaft und Tod, verquickt mit einem Kumpel- und einem Körpertauschfilm; die beiden letzten zu erläutern, wäre ein erheblicher Spoiler. „Soul“ überschreitet eine Grenze, die Pixar bisher respektiert hat. Es ist kein Film für Kinder, in den sich Erwachsene hineinversetzen können, sondern ein Film für Erwachsene, in den sich Kinder hineinversetzen müssen. Dazu gehört auch, dass er die simple amerikanische Botschaft des „Folge deinem Traum“ zumindest infrage stellt. Joe Gardner muss einsehen, dass es wichtigere Dinge im Leben gibt, als seiner Berufung blind nachzulaufen.

„Soul“ ist ab heute auf Disney+ zu sehen.

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Author: Jerrold Considine

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